Es sieht so aus, als ob der deutsche industrielle Mittelstand sich in zwei Teile aufspaltet. Auf der einen Seite sind die Spitzenreiter, die innovativ mit digitalisierung Technologie Produkte und Dienstleistungen schnell und gut auf den neuesten Stand bringen. Auf der anderen Seite gibt es ein Verfolgerfeld, das (noch) nicht investiert. Aus einer Studie von McKinsey geht hervor, dass deutsche Unternehmen lediglich 14 Prozent ihrer Forschungs- und Entwicklungsausgaben in Industrie 4.0-Technologie investieren. Noch ist es nicht zu spät. Zusammenarbeit mit – also nicht die Übernahme von – Technik-Start-ups erweist sich als ein guter Weg für schnelle Digitalisierung, davon geht Investor und Berater Willem Bulthuis aus München aus.
„Der industrielle Mittelstand spaltet sich immer häufiger in zwei Gruppen auf“
Das Linkedin-Profil von Willem Bulthuis weist eine lange Liste von Führungspositionen bei Philips auf. Sie reichen vom Innovation Manager bis zum Vice-President Global Automotive Sales und bewegen sich zwischen Marketing und Technikentwicklung für unterschiedliche Märkte: Verbraucherelektronik, Software, Automotive. Nach seiner Zeit bei Philips und einem Zwischenstopp u.a. bei NXP wurde er 2009 CTO des Münchner Familienunternehmens Giesecke & Devrient. Drei Jahre später wurde er Vorstandsmitglied des börsennotierten IT-Sicherheitsunternehmen Secunet. Nach weiteren drei Jahren machte er sich mit WBX Consulting in München als Investor und Coach für Start-ups und als Sparringspartner für Vorstände großer Familienunternehmen, die er „Corporates“ nennt, selbstständig.
Nicht übernehmen
Bei seinen Kontakten mit traditionellen Familienunternehmen steht die überall als notwendig erachtete Digitalisierung im Mittelpunkt. Ein möglicher Schritt für diese Unternehmen wäre es nach Ansicht Bulthuis’, mit Start-ups zusammenzuarbeiten. „Die jungen Unternehmen können ihnen einen Spiegel vorhalten. Zeigen, wie schnell sie arbeiten und welche Risiken sie eingehen. Eingehen können, denn sie haben kaum etwas zu verlieren. Die Start-up-Kultur kann man nicht aus Büchern lernen. Dazu muss man mit Start-ups zusammenarbeiten, sollte sie aber nicht übernehmen, denn einmal in eine große Bürokratie aufgenommen, verschwindet die eigene Kultur eines Start-ups schnell. Besser ist es, einen kleinen Anteil oder die Rolle des Launching oder Lead Customer zu übernehmen. So gibt man dem Start-up nicht nur finanzielle Sicherheit, sondern auch eine gute Referenz. In der Rolle des Kunden kann man ihm zudem ein gutes Feedback geben.“
Start-up finden
Die große Frage ist natürlich: Wie kann ein traditionelles Familienunternehmen ein passendes Start-up finden? Das beste sei, so Bulthuis, eine Corporate-Venture-Capital-Abteilung zu organisieren. „Sie sucht weltweit nach Start-ups, hat Kontakt zu hunderten, wählt ein paar aus und organisiert die Art der Zusammenarbeit mit den kleinen Betrieben. Man könne aber auch mit einem Accelerator zusammenarbeiten, erklärt er. In diesem Fall kann die Hilfe einer Organisation wie die des kalifornischen Plug & Play Tech Center in Anspruch genommen werden, das in Berlin und Stuttgart inzwischen Acceleratoren installiert hat und managt. „In Stuttgart läuft das mit Daimler und verschiedenen Zulieferern. Sie legen gemeinsam ein Thema fest, suchen geeignete Start-ups und coachen und unterstützen sie.“
Schlusslichter
Dass Bulthuis ein Beispiel aus dem Automotive-Bereich nennt, ist kein Zufall. „Wenn es darum geht, offen gegenüber der Zusammenarbeit mit Start-ups zu sein, um gemeinsam mit den Partnern nicht nur die Produktionsprozesse zu digitalisieren, sondern auch zu neuen Geschäftsmodellen zu kommen, bei denen Dienstleistung wesentlich wichtiger wird, ist die Automobilbranche – Unternehmen wie BMW – schon sehr weit. Aber auch die Lieferanten von Hightech-Produktionsprozessen – Siemens, Bosch, Trumpf – haben schon sehr früh angefangen, Start-ups einzubeziehen.“ Industrielle Schlusslichter sind seiner Meinung nach die Hersteller von Endprodukten wie Möbeln, Schiffen und Nahrungsmitteln. „Sie laufen Gefahr, den internationalen Konkurrenzkampf zu verlieren. An der amerikanischen Ost- und Westküste ist der Umgang mit interessanten Start-ups intensiver. Dort gibt es viele reiche Business Angels, die selbst einmal Starter waren. Sie können gut beurteilen, ob die richtigen Leute dabei sind, verstehen voll und ganz, was ein Start-up benötigt, sind bereit, Risiken einzugehen, und entscheiden sich schnell. Auch in den Niederlanden geht es etwas schneller und einfacher. Hier in Deutschland wird noch zu viel über ellenlange Businesspläne diskutiert und darüber was eventuell alles schief gehen kann.“
Vemcon
Dennoch gibt es in Bulthuis’ Netzwerk verschiedene Start-ups, die gerade dank Familienunternehmen einen Wachstumssprung machen können, indem sie deren Produkte digitalisiert haben. Vemcon aus München etwa bringt ein System auf dem Markt, mit dem Bagger und Bulldozer automatisiert bzw. sogar robotisiert werden können, erzählt CEO Jan Rotard. „Mit unserer Softwareplattform Nora können Nutzer wie Bauunternehmer, Bauern und Bergwerksbetriebe ihre Arbeitsmaschinen schnell intelligenter machen. Der Fahrer eines Baggers muss häufig dieselben Tätigkeiten ausführen, beispielsweise beim Glätten einer Oberfläche oder dem Beladen eines Lasters mit Sand. Unser System ist in der Lage, diese Tätigkeiten schnell zu lernen und dann dem Fahrer abzunehmen, vergleichbar mit Einparkassistenten oder autonomem Fahren beim PKW. Unser System verbindet ebenfalls die Steuerung eines Baggers mit den digitalen Zeichnungen unterirdischer Leitungen und Kabel. Das hat den Vorteil, dass Arbeiten schneller erledigt werden können, weniger Fehler gemacht werden – keine Baggerschäden – und so die Effektivität und Effizienz steigen.“
Viel Potenzial
Der wichtigste Investor für Vemcon ist einer der Gründer eines Familienunternehmens, das Software an OEM für Arbeitsmaschinen liefert. „Dieser Business Angel kennt daher unseren Markt sehr gut und erkennt viel Potenzial in unserer Technologie.“ Eine wichtige Referenz für Vemcon ist ein anderes marktführendes Familienunternehmen, das mit der Technologie des Starters den Bedienkomfort seiner mobilen Teleskopkräne verbessert hat, die es auf den Markt bringt. „Wir befinden uns jetzt in einer neuen Finanzierungsrunde. Es gibt großes Interesse bei Venture Capitalists und Business Angels. Dahinter stehen häufig traditionelle Familienunternehmen“, weiß Rotard.
Cybus
Sein Start-up-Kollege Pierre Manière von Cybus in Hamburg liefert Systeme für die Absicherung der Kommunikation zwischen der Maschine beim Nutzer und dem Maschinenbauer als Service-anbieter. „Unsere Kunden sind vor allem Maschinenbauer, die immer höheren Umsatz mit dem Fernservice der installierten Basis oder sogar mit neuartigen Angeboten wie Pay-per-Use für Maschinenverfügbarkeit generieren. Die Vernetzung auf dem Shopfloor ist ja nicht für eine derartige Kommunikation entworfen worden und deshalb nicht sicher genug. Darum installieren sie beim Maschinennutzer unsere Software, die ihm die vollständige Kontrolle darüber gibt, welche Daten er wann und wem preisgibt. Nichts verschwindet mehr unkontrolliert in der Cloud. Mit dieser Kontrolle wird eine Vertrauensbasis geschaffen. Wir sind der unabhängige Dritte, der weder eine Maschine noch eine Endanwendung verkaufen will.“
Unabhängig bleiben
In Cybus sehen so manche Maschinenbauer bzw. Hersteller von Maschinenkomponenten einen Lieferanten digitaler Technik, die ihre Produkte zukunftssicher macht. „Unser erster und wichtigster Investor ist ein Kunde, ein mittelständisches Unternehmen, das elektrotechnische Komponenten u.a. für die Sicherheit von Mensch und Maschine auf den Markt bringt. Außerdem gibt es weitere Kunden, auch konventionelle Unternehmen, die gern in unser Unternehmen investieren möchten, weil sie den Wert unserer Technologie erkannt haben. Sie interessieren sich auch für die zweite Finanzierungsrunde, die gerade bei uns läuft. Manch interessiertes Unternehmen möchte sogar die Mehrheitsanteile von Cybus übernehmen. Wir wollen aber unabhängig bleiben“, sagt Manière.
Er stellt übrigens fest, dass der industrielle Mittelstand sich immer stärker in zwei Gruppen aufspaltet: „Ein Teil investiert viel und schnell in Digitalisierung. Dann gibt es aber noch eine Gruppe, die das noch überhaupt nicht macht. Häufig sind das Maschinenbauer, die weiterhin noch ganz darauf geimpft sind, so effizient und in so großen Stückzahlen wie möglich zu produzieren statt auf Agilität und Flexibilität zu setzen.“
Link magazin 2017, Deutsche ausgabe
Übersicht der niederländischen Pavillons auf der Hannover Messe 2017:
- Holland High Tech House: Halle 2, Research & Technology, High Tech Innovation.
- Holland Industrial Supply Pavillon: Halle 4; Industrial Supply,