„Deutsche und Niederländer können sich bei der Implementierung von Industrie 4.0 gegenseitig helfen“

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Kontakte knüpfen und eng in der Kette zusammenarbeiten ist ein Muss für alle, die sich der weltweiten Konkurrenz stellen wollen. Connect & Collaborate lautet deshalb auch das Thema dieses Magazins. Was passiert in Deutschland und in den Niederlanden, um Industrie 4.0  zu gestalten? Gibt es Unterschiede bei der Herangehensweise und dem Tempo? Und nicht unerheblich: Geht es schnell genug?

Größere Effizienz und Flexibilität, schnellere Entwicklung immer komplexere Produkte und umfangreichere kundenspezifische Produktion – die Segnungen der Industrie 4.0 sind zahlreich. Aber ist die Industrie bereit dafür? Geht das alles schnell genug? Wo liegen die Unterschiede zwischen Deutschland und den Niederlanden? Zwei Professoren und ein Manager aus der Wirtschaft sprechen über ihre Sicht der Dinge.

Prof. Dr. Ir. Fred van Houten (Universität Twente) erzählt eine nette kleine Geschichte über den klassischen Werkzeugmacher und dessen neuen Kollegen, den Roboter: „Früher gab es den Werkzeugmacher mit seinen eigenen kleinen Maschinen und Meißeln. Er fertigte ein Produkt, dessen Zeichnung quasi auf einen Bierdeckel passte. Er konnte nicht genau sagen, wie lange es dauern würde, aber irgendwann war genau das fertig, was der Kunde wollte, ohne dass der Fachmann viele Instruktionen benötigte. Dann kam die Automatisierung, und alles musste exakt festgelegt werden: Jede Abweichung in der Spezifikation führte zu Fehlern. Es klappte längst nicht immer alles. Jetzt kommen nach und nach intelligente Maschinen, die sich wie der klassische Werkzeugmacher verhalten.“ Sie lernen aus ihren Fehlern und werden immer besser. Schließlich übernehmen sie selbstständig Kenntnisse von anderen intelligenten Maschinen, mit denen sie verbunden sind. „Mir ist so eine intelligente Maschine lieber als eine dumme“, sagt Van Houten.

Kontakte knüpfen und eng in der Kette zusammenarbeiten ist ein Muss für alle, die sich der weltweiten Konkurrenz stellen wollen. Connect & Collaborate lautet deshalb auch das Thema dieses Magazins. Was passiert in Deutschland und in den Niederlanden, um Industrie 4.0 zu gestalten? Gibt es Unterschiede bei der Herangehensweise und dem Tempo? Und nicht unerheblich: Geht es schnell genug?

Viele neue Fragen und längst nicht alle Antworten 

Prof. Dr. Ir. Fred van Houten, Professor für Konstruktionslehre: „Ob Industrie 4.0-Zertifizierung eine gute Idee ist? Kann sein, aber diese Art von Zertifikaten sind doch in erster Linie eine Marketingsache.“ Foto: Com-magz

Moral seiner Geschichte: Keine Angst vor Veränderung und Fortschritt. Der immer intelligentere Roboter fängt nicht an, durch die Fabrik zu wandern. Tote Maschinen werden zu intelligenten „lebenden“ Dingen. „Eine Neubewertung der Position des Menschen in diesem Szenario ist allerdings erforderlich. Was lässt man von Menschen machen, was von Maschinen? Sicher ist jedenfalls, dass der Fachmann immer eine Rolle spielen wird.“

Besser zuhören

Fred van Houten ist emeritierter Professor für Konstruktionslehre, was ihn jedoch nicht von der Arbeit abhält. Seine Expertise im Bereich Industrie 4.0 und Produktionstechnologie ist immens, und jedes Jahr hält er viele Vorträge. „Überall sind die Säle zum Brechen voll. Kürzlich stand ich vor 800 Leuten und sprach über Industrie 4.0 oder Smart Industry, wie wir in den Niederlanden sagen. Unternehmen wissen, dass sie was mit Industrie 4.0 machen müssen, aber was genau, das wissen sie nicht. Oft sind bei den Vorträgen auch auffallend viele Unternehmensberater im Saal.“

Bei Industrie 4.0 geht es selbstverständlich um viel mehr als die selbstlernenden Roboter und die voranschreitende Digitalisierung in der Fabrikhalle. Es geht um die effiziente Einrichtung und flexible Steuerung immer komplexerer Unternehmensprozesse. Es geht darum, dem Kunden besser zuzuhören, und es geht um eine gezielte Zusammenarbeit in der Lieferkette. Es geht um immer schnellere Entwicklungen und Innovationen, um neue Materialien, um neue Produkt-Dienstleistungskombinationen und um komplett andere Geschäftsmodelle. Bei Industrie 4.0 sind intelligente Produktentwicklung, Produktion und Logistik stark miteinander verwoben.

Business Case

„Das wirft Fragen auf, an die wir vor ein paar Jahren noch nicht im Traum gedacht haben“, sagt Prof. Dr. Dipl.Inf. Marco Groll. Er ist IT-Manager bei Daimler in Stuttgart und unterstützt mit seinem Team die Ingenieure bei der Entwicklung von LKW. Einen Tag in der Woche ist er Professor für Integrated Life Cycle Management in Enschede an der Universität Twente (UT). „Ob Unternehmen für Industrie 4.0 bereit sind? Sie wissen ja noch nicht einmal hundertprozentig, welche konkreten Vorteile Industrie 4.0 mit sich bringt. Sie können nicht abwarten, sie müssen jetzt was tun, aber was?“ Normalerweise entwerfen Unternehmer zuerst einen soliden Business Case. Das geht hier aber nicht. Investieren wir Geld und Zeit in eine Entwicklung, von der wir nicht wissen, ob wir tatsächlich davon profitieren werden? Groll: „Im Bereich Automotive kommt einer mit selbstfahrenden Autos daher, da kann der Rest nicht zurückstehen. Wenn diese Unternehmen dann abwarten und die Sache entwickelt sich erfolgreich, verlieren sie. Wenn sie investieren und es funktioniert nicht, kostet das viel Geld. Das sind schwierige strategische Entscheidungen.“ Jeder weiß, dass viel passieren wird, aber niemand weiß, wie es in zehn oder gar zwanzig Jahren aussehen wird. Es ist einfach so: Wer nicht mitmacht, hat das Nachsehen.

Prof. Dr. Dipl.Inf. Marco Groll, Professor für Integrated Life Cycle Management: „Normalerweise überlegen Unternehmer sich zuerst einen soliden Business Case. Das geht hier aber nicht.“ Foto: UT

Groll promovierte an der UT zum Thema Interconnection Based Product and Process Documentation: Da ging es bereits um die intelligente Vernetzung von Produkt- und Prozessinformationen. „Alles, was man digitalisieren kann, wird digitalisiert. Alles, was man automatisieren kann, wird automatisiert. Alles, was man vernetzen kann, vernetzen wir“, sagt er.

Wiege

Groll reist zwischen Stuttgart und Enschede hin und her. Auch Van Houten kennt Deutschland seit langem sehr gut. Schließlich steht die Wiege der Produktionsautomatisierung in Deutschland. Van Houten ist bzw. an einer beeindruckenden Zahl von Netzwerken beteiligt, u.a. an The International Academy for Production Engineering (CIRP) und an acatech, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften. Er ist u.a. Gründer des Fraunhofer Project Center auf dem Campus der Universität Twente, und er ist Mitglied des niederländischen Smart Industry Forums. Alle Phasen der Automatisierung in der Industrie hat er miterlebt. „Vor etwa fünfzig Jahren hielten Computer Einzug in die Fertigung. Vor zwanzig Jahren dachten wir, so viel Ahnung zu haben, alles miteinander verbinden zu können. Es war die Zeit der flexiblen Fertigungssysteme, des Computer Integrated Manufacturing. Die Euphorie war groß, aber es erwies sich dann doch schwieriger als gedacht, die Investitionen in die Automatisierung zu amortisieren. Es gab auch noch keine Nachfrage nach kundenspezifischen Produkten und es gab noch keine Seriengrößen von eins. Es schien einfacher, Dinge aus China heranzuholen, als sie selbst zu machen.“

Aber jetzt 2018 lautet das Stichwort: Reshoring. Van Houten: „Wenn ein Zulieferer intelligent, schnell und flexibel kleine Serien nach Maß fertigen möchte, dann wird das weit weg vom Heimstandort nichts. Wir können jetzt auch hier in Europa sehr effizient produzieren.“ Die Produktions- und Informationstechnologie sind vorhanden.

In den vergangenen Jahren hat sich wirklich viel in den Fabriken verändert: Mitarbeiter nutzen mit der allergrößten Selbstverständlichkeit in ihrer Freizeit Smartphones und Tablets. Sie sind ständig miteinander in Kontakt und teilen alles. Diese Art und Weise des Denkens und Handelns bringen sie mit zur Arbeit.

Pragmatischer

Aber wie ist es mit der Industrie 4.0 in Deutschland im Gegensatz zu den Niederlanden? „Niederländische Unternehmen sind pragmatischer“, erwidert Marco Groll. „Niederländer fangen an, bevor sie alles einschätzen können. Wenn sie auf ein Problem stoßen, suchen sie nach einer Lösung. Deutschland ist – stark vereinfacht gesagt – eher das Land der Denker und Planer. Niederländer argumentieren vom Verkauf und dem Service her, Deutsche denken in Produkten. Wir müssen einen guten Mittelweg finden. Wir können viel voneinander lernen.“ Das gründliche Nachdenken und viele Abwägen in Deutschland, stellt Fred van Houten ebenfalls fest. „In der Zeit, in der in Deutschland die Spezifikationen feststehen, haben die Niederländer bereits einen funktionierenden Prototypen gefertigt, wird häufig gesagt. Deutsche finden es faszinierend, dass wir die Dinge so anpacken. Bei jeder meiner Reden kommen Fragen zu Produktstandards. Sicher, die Standards muss man letztendlich haben, aber das ist auch am Ende der Entwicklung noch früh genug.“

Van Houten erkennt in Deutschland ein ziemlich starkes Kapitaldenken: In das Unternehmen getätigte Investitionen bestimmen die Zukunft. Es kann nicht so einfach ein anderer Kurs eingeschlagen werden. „Aber bei Industrie 4.0 geht es um die Frage, was der Kunde in den nächsten Jahren möchte und was dafür benötigt wird: Produktentwicklung und Unternehmensentwicklung können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden.“ Das mache die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den Niederlanden so angenehm, sagt Van Houten: „Deutsche Unternehmen empfinden die niederländische Vorgehensweise etwas opportunistisch. Niederländer wiederum finden die deutsche Art und Weise etwas unflexibel. Gemeinsam kommt man weiter.“ Van Houten nennt als Beispiel das niederländische Unternehmen AWL in Harderwijk, das intelligente Maschinenkonzepte entwirft, beispielsweise für Autositzrahmen für die Automobilindustrie. „Die deutschen Auftraggeber lassen dem Unternehmen immer mehr Freiraum, denn sie wissen, dass AWL die Entwicklung besser im Griff hat als sie selbst.“

Fertigung ist Kerngeschäft

Die Veränderungen verlaufen vielleicht etwas langsamer. Aber junge Leute rücken nach, und neue Besen kehren bekanntlich gut. Außerdem gibt es besondere Initiativen, Fred van Houten nennt als Beispiel den Spitzencluster Intelligente Technische Systeme OstWestfalenLippe, bei dem er Mitglied des Beirates ist. Mehr als hundert Beteiligte arbeiten gemeinsam in unterschiedlichen Industrie 4.0-Projekten (siehe den folgenden Artikel, der auch vom niederländischen Brainport Industries Campus mit seinen Fieldlabs handelt).

Für viele Unternehmen war und ist die Fertigung logischerweise das Kerngeschäft. Alles in der Peripherie war so weit weniger wichtig. Unternehmen, die etwas mehr Anhaltspunkte haben möchten, könnten bei Fraunhofer einen Schnellscan Industrie 4.0 machen, erzählt Van Houten. „Was machen wir als Unternehmen vielleicht bereits jetzt, was können wir ganz einfach in Angriff nehmen? Was wissen wir von unseren Kunden aus digitalen Quellen? Haben wir bereits ein gutes Onlineportal? Es ist wichtig, erst mal das Naheliegende anzugehen und nicht gleich nach den Sternen zu greifen.“

Herausforderungen gibt es nämlich immer noch genug. Marco Groll nennt die Datensicherheit, die immer wichtiger wird. „Wir tauschen immer mehr Daten über komplexe Informationssysteme, aber wem gehören die Daten? Können wir die vernetzte Welt managen? Wenn alles mit allem verbunden ist, wird das Lokalisieren von Fehlern schwieriger. Wie ist es mit der Informationsethik und der Maschinenethik: Wie können wir wissen, ob Entscheidungen, die Maschinen treffen, auch wirklich gut und richtig sind?“

Für Van Houten lautet das Schlüsselwort „Vertrauen“. „Wir haben in der Region mit Unternehmen wie Demcon, Thales, NTS Norma, Viro und Apollo Vredestein ein Projekt über extended Product Life Cycle Management laufen. Produktlebenszyklen werden kürzer, damit muss man sich gemeinsam auseinandersetzen. Das Teilen von Wissen ist überall ein Thema. Ich kann eine Internetverbindung absichern, aber wie ist es mit der Nutzung von Informationen?“ Viele Fragen suchen nach Antworten. „Man kann digitale Businessmodelle mit Protokollen absichern, aber Risiken bleiben immer. Und das war auch früher im Geschäftsleben so.“

 

Reinhold Gross, TRUMPF

Niederlande – starke Partner für Industrie 4.0

Prozessoptimierung ist das Stichwort, fragt man Reinhold Gross, Geschäftsführer Vertrieb & Services der TRUMPF Werkzeugmaschinen GmbH, nach seiner Meinung über die niederländische Zuliefererindustrie: „Im Hinblick auf die systematisch vorangetriebene Prozessoptimierung und als logische Konsequenz deren Automatisierung sind die Niederlande anderen europäischen Nationen einen Schritt voraus.“ Gute Voraussetzungen angesichts der Entwicklungen, die sich laut Gross in OEM-Betrieben abzeichnen: kleinere Losgrößen und individualisierte Produkte. Dies müsse zwangsläufig in mehr Flexibilität und damit auch mehr Transparenz über jeden Schritt im Fertigungsprozess resultieren. Sein Fazit: „Produktivitätssteigerungen können kaum noch in einem einzelnen Schritt betrachtet oder erreicht werden, sondern ausschließlich unter Betrachtung der vor- und nachgelagerten Prozesse. Angesichts der Vorreiterrolle niederländischer Unternehmen in der Anwendung von Industrie 4.0-Lösungen entwickeln die Firmen im Nachbarland sich hier zu wichtigen Partnern.“

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